Foto Die Mauer in Jerusalem

Eckart Kroneberg
rororo Taschenbuch 482

Die Mauer oder
Der 13.August


Beschreibung einer Mauer

Zwischen Rudow und Lübars,
Schritt für Schritt, Straße für Straße

Sie beginnt in Rudow. Dort versperrt sie die Waltersdorfer Chaussee. Rudow liegt im Südosten der Stadt, du kommst aus Neukölln, überquerst den Teltow-Kanal, in die bis dahin geschlossenen Häuserfronten schieben sich Gärten, später auch Felder, in Rudow gibt es richtige Bauernhöfe. Deine Straße endet vor der Mauer. Die ist niedrig hier, du kannst hinüberblicken. Links und rechts liegen Kleingärten. Am Straßenrand, links und rechts, hört die Mauer schon wieder auf. Dort wird sie, links und rechts, fortgesetzt von einer Doppelreihe aus Betonpfeilern. Die sind zwei Meter hoch, und sie sind mit Stacheldraht verspannt, nicht nur Pfeiler mit Pfeiler, sondern auch Reihe mit Reihe. Links führt ein Feldweg daran entlang. Auf beiden Seiten Kleingärten. Die linker Hand sind gepflegt, geschmückt, bunte Häuschen darinnen, manche Besitzer verbringen hier den Sommer. Auch fehlt es nicht an Gartenzwergen und anderem Zierat, womit man in Deutschland seinen Garten auszuschmücken pflegt. Die Gärten auf der anderen Seite scheinen verlassen. Ein breiter Streifen den Stacheldraht entlang ist gerodet. Rot sind die Stümpfe von Kirschbäumen, weiß und gelb die von Apfel und Birne. Es geht rasch, bebautes Land in Ödnis zu verwandeln.
Nach zweihundert Schritten biegt der Stacheldraht nach Norden ab, die Gärten bleiben zurück, kilometerweit ziehen die Betonpfeiler über Felder. Zwei Grenzpolizisten beobachten den Fußgänger durch Feldstecher. Ein Hubschrauber kreist in geringer Höhe, und die Uniformierten kriechen unter ein Gebüsch. Wie groß ist der Himmel über dieser Stadt. Auf den Feldern drüben viel Mais und Sonnenblumen. Maiskolben. «Wurst am Stiel» hat das Chruschtschow genannt. Inmitten von Feldern und Gärten, im Westen, dicht an der Grenze: Die Eternit-Werke.
Johannisthaler Chaussee. Die Brücke über den Teltow-Kanal ist auf dem östlichen Ufer zugemauert. Grün uniformierte Grenzpolizisten stützen die Ellbogen auf die Betonplatten und beobachten das westliche Ufer durch Feldstecher. Auf diesem Ufer, hinter einer Baumgruppe, steht ein amerikanischer Schützenpanzer. Antennengewirr. Kinder ringsum, meistens Jungen. Ein Knirps macht große Augen, bis ihm ein GI einen Chewing Gum schenkt. Die Seligkeit. Vergeblich versucht ein Schupo, die Kinder von dem Kampffahrzeug zu vertreiben. Betonpfähle mit Stacheldraht am östlichen Kanalufer. Immer wieder Doppelposten, ausgerüstet mit Schnellfeuergewehr und Feldstecher. Sie suchen mit ihren Gläsern das westliche Ufer ab.
Sonnenallee, Übergang für Westberliner. Zoll und ein Bereitschaftswagen der Schupo auf dieser Seite. Immer noch Gartengelände, aber schon erheben sich da und dort Wohnblocks. Betonplatten auf der Straße, links, rechts, links, rechts, Slalom nennt man das. Dazwischen Grenzpolizei, jeder hat seinen Feldstecher und benutzt ihn ohne Pause. Gleich hinter dem Stacheldraht eine Großbaustelle, Wohnhäuser, langgestreckte Kästen. Ein hoher Baukran. Als Baumaterial benutzen sie diese rötlichen Betonplatten, das heißt: Großblockbauverfahren. Sie waren sehr stolz darauf, als sie es vor Jahren zum erstenmal am Ostbahnhof ausprobiert hatten. In Windeseile kannst du aus diesen Platten Häuser erbauen. Und Mauern. Auf dem runden Zementsilo steht mit großen Buchstaben: VEB VOLKSBAU BERLIN LICHTENBERG. Sonnenallee ist ein Übergang für Westberliner, aber es geht niemand über. Am Fahrbahnrand im Westen liegt ein verrotteter Totenkranz, merkwürdig, gut erhalten die weißen Schleifen: Ein letzter Gruß von Klaus, Irmgard und Heinz.
Die Treptower Straße stößt auf die S-Bahn, Ring über Ostkreuz, früher. Auf dem Bahnkörper, hoch über der Straße stehen Sie mit Karabinern und aufgepflanztem Bajonett, eine FDJ-Fahne weht im Wind: Auf blauem Grund eine aufgehende Sonne und die Buchstaben FDJ, gelb. Hinter der Mauer stehen zwei Halbwüchsige in graublauer Uniform, sie heben die Maschinenpistolen, einer schreit: «Nehmen Sie die Hände von der Mauer! Zurück!»
Ich gehe weiter durch die Heidelberger Straße. Auf der linken Seite neue Wohnhäuser, große Fenster, bunte Balkons, die Inschrift: Wohnungsneubau Neukölln 1960. Der Gehsteig vor der Häuserzeile ist schmal, der Stacheldraht, doppelt, verläuft auf der Fahrbahn. Grenze ist die Gehsteigkante. Viel Uniformen da drüben, alle zwanzig Meter zwei Mann, die Schnellfeuergewehre schußbereit.
An der Ecke Heidelberger-Bouchéstraße befindet sich ein kleiner Kinderspielplatz. Da stehen Menschen, die schauen hinein in die Bouchéstraße. Hinter dem Draht Polizei, Polizei, Bajonette, Maschinenpistolen. Ein Mannschaftswagen der Grenzer rollt langsam hinter dem Draht entlang. Drüben, in vielleicht hundertfünfzig Meter Entfernung, stehen auch Menschen, sie schauen auf die Leute an der Ecke Heidelberger-Bouchéstraße. Über diese Entfernung hin läßt sich nicht sprechen. Auch mußt du schon sehr gute Augen haben, wenn du Gestik und Mimik dieser Leute erkennen willst. Und das ist doch nötig, man redet so miteinander, durch den Stacheldraht hindurch, über die Polizisten hinweg. Das geht zum Beispiel so vor sich: Der Mann neben mir setzt sein Opernglas ab, ballt die rechte Hand und macht mit ihr schnelle Drehbewegungen vor seiner Brust. Dann legt er drei Finger der Rechten zusammen und führt sie an die Lippen und wirft den Kopf in den Nacken. Dann hält er wieder das Opernglas vor die Augen und brummt:
«Na, ein Glück, der ist also angekommen.» Noch einmal setzt er das Glas ab, wieder die Geste des Trinkens, anschließend reibt er Daumen und Zeigefinger gegeneinander, schnell wieder das Glas vor die Augen. Diesmal schüttelt er den Kopf, wiederholt die Zeremonie, schimpft lauter, redet mich an: «Die muß dämlich sein», sagt er, «die is dämlich! Daß die mich nicht versteht?» Zunächst verstehe auch ich ihn nicht, er muß es mir erklären. Da drüben, hundertfünfzig Meter weit, steht seine ältere Schwester, ja, die da mit dem Opernkieker. «Der habe ich vorige Woche Kaffee geschickt, wissense, und nun wollte ich wissen, ob se den gekriegt hat, und se hat genickt. Nun wollte ich aber noch wissen, ob die da drüben jetzt wirklich Zoll für so was zahlen müssen, und die kapiert einfach nich, was ich will, se kapiert es nich, die muß dämlich sein!» Und plötzlich schreit er hinüber: «Schreib doch! Schreiben! Einen Brief! Schreiben!» Die Frau winkt mit einem weißen Tuch, zwischendurch wischt sie sich damit die Augen. Die Grenzpolizisten blicken vor sich hin.
Von der Bouchéstraße kommst du in die Harzer. Harzer? Im Harz habe ich das verbracht, was man Kindheit nennt. Long, long ago. Da ist die Grenze schon sechzehn Jahre alt, im Harz. In der Harzer Straße aber siehst du sie nicht gleich, die Grenze. Die Harzer ist eine kleine Straße mit anspruchslosen, vierstöckigen Häusern. An den zu ebener Erde liegenden Haustüren viele Klingel-knöpfe, mit detaillierten Angaben, wie oft du klingeln mußt, wenn du zu wem willst. Durch die Glasscheiben der Haustüren siehst du die Ziegelmauer. Die Kellerfenster vermauert. Die Fenster im Erdgeschoß zugemauert, manchmal haben sie auch die Mauer hinter Teerpappe versteckt. Manchmal hängt auch noch ein Stück Gardine vor den Steinen. Auf einem Ruinengrundstück zwischen der Häuserzeile hatten sie Kleingärten angelegt, sozusagen auf der Kellersohle. Du siehst noch die Vierecke, wo die Lauben standen, da hinten Bretterstapel und überall die Baumstümpfe. Ein Blechfaß, in den Boden gegraben, die Pumpe darüber tropft. Ja, das sind Gärten gewesen, früher einmal, ganz früher, vor vier Wochen.
Frontal stößt die Harzer Straße gegen die Mauer. Du mußt zurück, aber das letzte Haus vor der Mauer hat einen Durchgang zur anderen Straße. Die Mauer ist hier brusthoch, hinter ihr liegen zwei rote Feuerwehrschläuche, Grenzpolizisten. Noch ehe ich den Hauseingang erreichen kann, platscht der Wasserstrahl neben mir aufs Pflaster. Aber das letzte Haus ist wirklich ein Durchgang: Ich stehe am Neuköllner Schiffahrtskanal, Grünanlagen, Mütter mit Kinderwagen in der letzten Sommersonne. Der Neuköllner Kanal zweigt hier ab vom Landwehrkanal. Als Kinder haben wir gesungen: Es schwimmt eine Leiche im Landwehrkanal. Gemeint war wohl Rosa Luxemburg. Eine Rechnung?
Die Wiener Brücke, Eisenträger und Holzplanken, ist gesperrt. Stacheldraht am anderen Ufer. Auf der Brücke Vopos mit Karabiner und aufgepflanztem Bajonett. Drüben, auf der anderen Seite eine Braunkohlenhalde, leere Lagerplätze. Dahinter zwei riesige Backsteinbauten, auf den winzigen Eisenbalkons im fünften Stock Polizei oder Militär, mit bloßem Auge ist das schwer zu erkennen. Ein weißhaariger Mann neben mir hat ein Fernglas, der schaut auf diese Balkons. «Karabiner!» ruft er. Und: «Die haben Bierflaschen vor sich stehen!» Und: «Jetzt trinkt der eine!» Und: «Der Rotzjunge!»
Am Ufer des Kanals entlang, drüben Stacheldraht und Mauer. Ein Jeep rollt vorbei, zwei Frauen winken den Soldaten zu, die grüßen zurück. Eine der Frauen, sie trägt einen flammendroten Rock und eine gelbe Bluse, das Haar hat sie unter einem schwarzen Kopftuch versteckt, sagt zur Begleiterin im breiten Ostpreußisch: «Waii! Der denkt sich jätzt: Diese alten Wäiiiber!» Dann
spannt sich die Eisenbahnbrücke übers Wasser. Auf der Westseite steht ein Schupo, auf der Ostseite, rings um eine FDJ-Fahne blaue Uniformen der Trapo und grüne Grenzpolizei. Wieder Karabiner mit aufgepflanztem Bajonett.
Die nächste Straßenbrücke ist zugemauert. Sie verband früher die Schlesische Straße (Kreuzberg) mit dem Bezirk Treptow. Über die Mauer ragen zwei Litfaßsäulen. Auf der linken steht: «Mit dem Friedensvertrag zu Frieden und Einheit der Nation! Mit dem Sozialismus zum Glück des Volkes! Wählt die Kandidaten der nationalen Front!» Auf der rechten Säule ein Kinopiakat: «Fall Gleiwitz». Auf dunkelgrünem Grund die schwarze Silhouette eines Mannes mit Maschinenpistole. Hier geht es nicht weiter.
In der Schlesischen Straße, sie ist sehr breit, fehlen noch immer viele Häuser. Die Ruinenfelder sind mit weißen Holzgittern abgezäunt, Plakatwände: Diolen auch im Herbst! Frisch und froh durch Fanta! Aus einem Kiosk weht es verführerisch: Currywurst, Schaschlik. Ein Arbeiter fordert mich auf, ein Bier mit ihm zu trinken. Er sagt: «lck hab nämlich heute mein' soßjalistischen Tag, Nasdarowije!» Er setzt sein Glas ab, wischt sich den Mund und sagt: «Den Nikita, den mißte man uffhängn.»
Es geht gegen Abend. Die Pastellfarben der breiten Berliner Straßen. Kreuzberg. Eine Arbeitergegend, hätte man früher gesagt. Und noch früher: Proletarierviertel. Das alles stimmt nicht mehr. Die Burschen sind schon gekleidet zum Ausgehen. Sie haben die «Fliege» unter die Kragenecken geklemmt. Ihre Mädchen schminken sich die Lippen modisch blaß. Kein Unterschied zwischen Schlesischer Straße und Kurfürstendamm, was das betrifft.
Die Schlesische stößt auf die Oberbaumbrücke, auch das ist ein Übergang für West-Berliner, aber niemand passiert die Sperre. Die Hochbahnbrücke über den Osthafen ist ein Alptraum. Als Brücken-pfeiler dienen zwei neugotische Backsteintürme, sie sind stark bombengeschädigt. Unter der Brücke bilden Plankenzäune einen verwinkelten niedrigen Gang, das ist der Fußgängerweg. Die kleinen Läden unter der Brücke haben geschlossen, hier kauft niemand mehr, die Kundschaft kam von drüben. Vor den Hafen- und Speicherbauten am Ostufer liegen Lastkähne. Die Lücken zwischen den Bauwerken sind frisch vermauert. Ziegel und die rötlichen Betonplatten. Am Westufer lehnen Menschen am Eisengeländer, dicht bei dicht. Sie blicken hinüber.
Die Straße biegt jetzt vom Hafen ab, die Grenze weicht zurück. Ruinenflächen, einzelne Wohnhäuser, gebaut etwa 1900, häßlich, grau in grau. Weit entfernt auf einem Ruinengrundstück zwei alte Lagerhäuser: riesig, kahl die schwarzen Fensterhöhlen. Ein moderner Wohnblock auf der linken Straßenseite, rot, grün, rot, grün. Alle Querstraßen rechter Hand enden nach wenigen Metern vor der Mauer. Hinter der Mauer fließt die Spree.
Vom Osthafen an verläuft die Grenze auf dem westlichen Spreeufer. Industriegelände. Ein Jeep mit aufmontiertem Maschinengewehr, hello! In der Brommystraße blickst du über die Mauer auf geborstene Pfeiler einer Brücke, die es nicht mehr gibt.
Köpenicker Straße. Ruinen, Ruinen. Etwas weiter: BEHALAVIKTORIASPEICHER, ein Steinkasten. Eine Kranbrücke gegen den dunkelnden Himmel. Kokshalden. Dahinter fließt die Spree, aber vorher kommt die Mauer. Sehr weit an einem langgestreckten Bau die Leuchtschrift: Berlin-Ostbahnhof.
Jetzt sind alle Straßenlampen eingeschaltet, der Himmel wird schwarz. Die Köpenicker Straße stößt gegen die Mauer. Also links einbiegen in den Bethaniendamm. Immer an der Wand lang. Die westliche Häuserflucht ist die Grenze; aber die Mauer verläuft erst am Rande des Gehsteigs. «Nur auf eigene Gefahr können Sie da durch!» warnt der Schupo. Zwei Taubstumme wollen den schmalen Gang zwischen Häuserfront und Mauer betreten, der Schupo gestikuliert, die wollen ins Bethanienkrankenhaus, der Polizist schreibt es ihnen auf einen Zettel: «Zurück! Nicht hier durch!»
Die beiden kehren um. Wir kommen etwas ins Gespräch, der Schupo und ich. Es gibt nur ein Thema. Er sagt abschließend: «Wissen Sie, ich komme mir vor wie im Zirkus; da sitzt man auf dem Rang, und unten, in der Arena, da zerfleischen sie sich.» Er starrt auf die Mauer, auf die Vopos, die uns über die Mauer hinweg, aus zwanzig Meter Entfernung mit Feldstechern beobachten. Dann sagt er leise: «Das Schlimme aber ist, daß wir in Wirklichkeit gar keine Zuschauer sind, sondern selber in der Arena sind. Das ist das Schlimme.» Wir verabschieden uns durch Handdruck. Ein paar Schritte bin ich schon gegangen, da ruft er mir nach: «Das ist das Schlimme, daß wir mit drin stecken!»
Bethaniendamm, dieser Gang, zwischen Häuserfront und Mauer. Fünffach läuft der Stacheldraht über der Mauer. Matt schimmernde Gewehrläufe über den Steinen. Augen, die meiner Bewegung folgen. Kein Mensch. Kein Wort. Dunkel. Einige hundert Meter. Jetzt richten sie Ferngläser auf mich, über die Mauer hinweg, aus drei Meter Entfernung. Dann ist der Gang zu Ende, die Mauer weicht rechts zurück. Eine Kuppelkirche, erhellte Fenster, Orgelmusik. Die Fuge g-Moll.
Krankenhaus Bethanien. In der Waldemarstraße hält mich ein Schupo auf. Der Gehsteig längs der Mauer gehört schon nach drüben. «Un was wolln Se schließlich auch», sagt der Schupo, «Se sehn ja sowieso nischt: Nur Mauer und die Vopos dahinter.»
An der Ecke Sebastian-/Luckauerstraße ein handgeschriebenes Schild: «Warnung, dieser Gehweg gehört zum Sowjetsektor.» Wie eben am Bethaniendamm: Die linke Häuserflucht gehört zum Westen. Die Mauer steht am Rand des Gehsteigs. Sie wird von einem großen Schild überragt: «Bürger der Sebastianstraße! Wir machen Sie darauf aufmerksam, daß der von Ihnen benutzte Bürgersteig zum Territorium der DDR gehört und die Hausfluchtlinie Staatsgrenze ist. Wir erwarten, daß Sie in Ihrem eigenen Interesse jegliche Provokation auf diesem Gebiet verhindern, da sonst von uns die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen durchgeführt werden.»
Übergang Heinrich-Heine-Straße: Du kommst aus der Sebastianstraße und stehst plötzlich östlicher Grenzpolizei gegenüber, zehn Schritte, kein Zaun, keine Mauer. Aber um die Hausecke herum, da stehen Schupos. Hinter ihnen, dreißig, vierzig Meter vom Übergang entfernt, dichte Menschengruppen, stumm. Ich zeige meinen Ausweis, alles in Ordnung, der ist nur durch die Sebastianstraße gegangen, alles in Ordnung. Ich mache einen Bogen um den Übergang (für Westdeutsche) und stoße weiter vor in die Verlängerung der Sebastianstraße. Links unerkennbare Ruinen, dann planiertes Gelände. Am Gehsteigrand Betonpfeiler in Doppelreihe, Stacheldraht, dahinter erst die Mauer. Die Neonlampen auf der anderen Seite beleuchten deinen Kopf, aber deine Füße tappen im Dunkeln. Vorn blendet jetzt ein starker Scheinwerfer auf, die Augen schmerzen. Kein Mensch, kein Mensch. Einundzwanzig Uhr. Stacheldraht und Mauer biegen im Winkel von neunzig Grad links ein, stoßen auf die Brandmauer eines Hauses. Also zurück.
Stallschreiber- und Kommandantenstraße. Stacheldraht, Betonpfeiler, Mauer. Dahinter die Ruine einer Kirche, durch die leeren Fensterhöhlen das Licht von Straßenlaternen. Das Gelände wird noch unübersichtlicher. Winkel und Ecken, Ruinenfelder, Grünanlagen. Links ein moderner Wohnblock. Durch die Glasscheiben des Hochhauses siehst du die leuchtend roten Treppen. In der Kommandantenstraße mußt du die Mauer verlassen. Vorüber an einem neuen Würfelbau, Fabrik, rote Leuchtschrift an der Breitseite: MURATTI.
Kochstraße. Wieder schiebt sich die Mauer heran. Alle Querstraßen rechter Hand enden vor den Betonplatten. Menschen, viele Menschen hier, die stehen da und schauen hinüber und sagen nichts.
Markgrafenstraße, Enkestraße, Friedrichstraße: Der amerikanische Panzer steht nicht mehr da. Einige Jeeps, Funkanlagen, Mannschaftswagen der Schupo. Das erste Gebäude auf der anderen Seite zeigt in Leuchtschrift: UNION-VERLAG und NEUE ZEIT. Verlag und Zentralorgan der mitteldeutschen CDU. Grenzpolizei auf der Kreuzung Friedrich-/Zimmerstraße. Straßensperren, der Slalomweg. Maximalgeschwindigkeit fünf Kilometer. Das ist der Übergang für Diplomaten und Ausländer. Auf einem Verkehrsinselchen, noch auf westlicher Seite, steht ein Bürotisch, davor ein Stuhl. Auf dem Tisch liegt ein großer flacher Kasten. Im plötzlich aufflammenden Scheinwerferlicht eines Jeeps erkenne ich die Farbe von Stuhl und Tisch: US-Army. Eine Kneipe zwischen Zimmer-und Kochstraße ist leer. TREFFPUNKT. Wer trifft hier noch wen? Ein GI kauft ein paar Flaschen Coca-Cola.
Und weiter zur Wilhelmstraße. Ruinen, Ruinen. Über die Mauer ragt das Gebäude des ehemaligen Luftfahrtministeriums, jetzt heißt es Haus der Ministerien, es steht zwischen Niederkirchner und Leipziger Straße. Einige Fenster sind erleuchtet. Der einsame Schupo auf dieser Seite der Mauer vertritt sich die Füße und gähnt.
Am nächsten Morgen regnet es, der Sommer ist zu Ende. Du steigst aus am U-Bahnhof Gleisdreieck und gehst durch die Schöneberger Straße am Gebäude der Reichsbahndirektion entlang, ein riesiger Bau, leidlich wiederhergestellt. An der Fassade des zweiten Stockwerks acht Steinplastiken, überlebensgroße Figuren: ein Schaffner mit Kelle, ein Streckenarbeiter. Vier Figuren fehlt der Kopf. Und am Halleschen Ufer entlang; das da ist wieder der Landwehrkanal, ein Regenschauer rauht den Wasserspiegel auf. Rechts eine Ziegelmühle, ungeheure Halden aus Trümmerziegeln und Ziegelmehl, schmutzigrot im Regen. Dann der nördliche Teil des Anhalter Bahnhofs, der Bahnkörper erhöht, vielleicht sechs Meter über der Straße, im Norden eine Art Appendix der großflächigen Anlage. Bahnkörper heißt das, ja, und dieser Körper ist tot und in Verwesung. Hier fahren seit sechzehn Jahren keine Züge mehr. Wie eine uralte Burg, so liegt das da. Obenauf einige bizarre Hausruinen. Und blaue Trapos mit Karabiner und aufgepflanztem Bajonett hin und her, hoch über dem pausenlos flutenden Verkehr am Landwehrkanal.
Linkstraße. Zwischen ausgebrannten Häusern und Teilruinen ein altes Hotel. Und rechter Hand die hohen ungefügen Häuser: Zugemauert, vergittert, sie gehören zum Bahnkörper, zum Sektor. Ruinenfassade. Seltsam ein einzelnes Fenster im Hochparterre, es ist verglast, hinter den Scheiben helle Stores, hinter den Stores bunte Gardinen. Durch einen Gardinenspalt schimmert die Ziegelmauer.
Die Linkstraße endlich, stößt auf den Potsdamer Platz. Der ist ein einziges Gewirr von Stacheldraht und Betonmauern, hier scheint jeder Meter extra eingezäunt zu sein, der ganze Platz ist kreuz und quer versperrt durch die Doppelreihen von Betonpfeilern und Stacheldraht, dahinter die Mauer, immer wieder neu ansetzend, zwei-, drei-, vierfach. Die kleinen Läden auf der Westseite sind mit einer Ausnahme geschlossen. Das ist ein Kurzwarengeschäft, das letzte vor der Mauer. Unter der gestreiften Markise schaukelt ein Bündel Petticoats im Wind, hellblau, rosa, gelb. Aber kein Käufer zeigt sich. Hinter der leeren Coca-Cola-Bude steht ein amerikanischer Panzerspähwagen, der Motor läuft. Drüben, auf der anderen Seite, in einiger Entfernung ein Lautsprecherwagen, Zivilisten in Ledermänteln, Grenzpolizei, Volkspolizei, Volksarmisten mit Stahlhelm.
Durch die Bellevuestraße gehe ich in Richtung Tiergarten, die Grenze bildet hier einen spitzen Winkel, Bellevue und Lennéstraße sind die Schenkel. Die Lennéstraße ist schmal, sie wird links vom Tiergarten, rechts vom Stacheldraht eingezäunt. Die Mauer beginnt erst dahinter. Ein Westschupo verwehrt mir den Durchgang zur Lennéstraße: Der Draht verläuft zwar auf der rechten Seite, aber die Straße gehört dennoch auf längere Strecken schon ganz zum Sektor. So gehe ich geradeaus in den Tiergarten, biege nach etwa hundert Metern rechts ab und wieder rechts und stoße nun doch auf die Lennéstraße.
Jetzt gehe ich am Stacheldraht entlang, in zwei Meter Abstand, bis dicht an die Ebertstraße, da, über dem Buschwerk, ist schon das Brandenburger Tor zu sehen.
Plötzlich werde ich angerufen. Hinter dem Stacheldraht, der hier nur einfach ist, stehen zwei Volkspolizisten, die Schnellfeuergewehre haben sie an die Hüfte gehoben. «Haun Se ja bloß schnell ab», sagt der eine, «Se befinden sich schon auf'm Boden der Deutschen Demokratischen Republik!» Seiner Sprache nach könnte er aus Zwickau stammen. Schön, ich will abhauen, aber sofort ruft er, ich soll ja stehenbleiben und die Hände heben. Was noch? Der Stacheldraht hat kein Loch. Der Sprecher kommt dicht an den Zaun heran. Er sagt nachdrücklich: «Horche mal druff, solche wie dich, die genn' ich! Ihr wollt hier bloß brovoziern!» Das bestreite ich. Der andere Volkspolizist, halb hinter dem Sprecher, kneift ein Auge zu und macht eine etwas abfällige Kopfbewegung auf seinen Kollegen hin. Dieser sagt noch mehr. Er sagt: «Ich säh' doch, was so'n Achtgroschenjunge is, hau bloß ab, Mensch!» Diesmal erlaubt er mir, daß ich seiner Aufforderung Folge leiste.
Straße des 17. Juni. Der englische Posten vor dem russischen Ehrenmal wird gerade abgelöst, es ist kurz vor dreizehn Uhr. Er springt aus dem Schilderhäuschen, seine Stampfschritte links, rechts, links, und Haltung! - wirken etwas komisch. Die russisehen Posten im Denkmalsinneren haben sich zurückgezogen, es regnet stärker. Auch der englische Armeestacheldraht rings um das Denkmal beginnt schon zu rosten.
Spanische Reiter vor dem Brandenburger Tor. Die Mauer endet etwa fünfzig Meter rechts und links neben dem Tor. Die Lücken sind mit Blumenkübeln verstellt, zwei rot blühende Halbkreise verbinden Mauer und Tor. Naß klatschen die roten Fahnen gegen die Masten, naß auch die große Fahne oben, hinter der Quadriga, Schwarz-Rot-Gold mit dem Ährenkranz. Grenzpolizisten hinter den Torsäulen beobachten die Westseite mit Feldstechern. Die Mauer verschwindet hinter dem Reichstagsgebäude. Mein Weg führt über das bewachsene Trümmerfeld zum Lehrter Bahnhof. Vorher sehe ich noch unter den Bäumen hinter dem sowjetischen Denkmal das englische Biwak: Panzerspähwagen, Schützenpanzer, Lkws, Jeeps.
Über die Moltkebrücke kommst du über die Spree zum Westufer des Humboldthafens. Das Gewässer gehört zum Sektor, aber Stacheldraht und Mauer stehen auf dem Ostufer. Hier haben sie den ersten Flüchtling erschossen, hier, im Wasser dieses Hafens. Drüben hinter dem Stacheldraht beginnt das Gelände der Charité. Rote, mehrstöckige Ziegelbauten, überwuchert von Efeu, die schwarzgrauen Schieferdächer.
Am Lehrter Bahnhof der Übergang Invalidenstraße. Über die Straßenmauer hinweg beobachten Grenzpolizisten die westliche Seite mit Feldstechern. Kein Weiterweg, zurück, Heidestraße, am Gelände des Lehrter Bahnhofs entlang, rechts Industrieanlagen, Schuppen, Lagerplätze. Auf dem Gehsteig steht mit großen roten Buchstaben: KAMPF DEM ATOMTOD.
Stacheldraht und Mauer siehst du erst wieder am Nordhafen. Auf dem östlichen Ufer. Der Nordhafen ist im Westen und Norden mit Grünanlagen umgeben, Laubengänge, verschwiegene Bänke. Ecke Nordhafen-Sellerstraße ein weißes Schild: FIN DU SECTEUR FRANQAIS. Dahinter die Mauer aus den rötlichen Betonplatten. Sie trägt hier schon ein Dach aus frischen roten Ziegeln, es wird ja Winter.
Jetzt verläßt dich die Mauer nicht mehr. Ein Stück Chausseestraße, die Mauer folgt auf der rechten Seite, am Gehsteigrand. Die Chausseestraße ist auch ein Übergang für Westberliner, sie führt zum Walter-Ulbricht-Stadion, gleich dahinter liegt der Friedhof der Dorotheenkirche. Da liegen Hegel und Fichte. Und Brecht. Vor vier Wochen bin ich noch dort gewesen. Jetzt aber stehen an der Kreuzung Chaussee-/Liesenstraße Ost- und Westpolizei einander gegenüber. Grenzpolizei und Vopos und Zöllner drüben, alle, bis auf die Zöllner, schwer bewaffnet. Auf der Westseite ein Zivilist mit Stoppkelle, ein Zöllner, ein Schupo. Durch die Liesenstraße rollt langsam ein französischer Schützenpanzer, ein Jeep voran. Kämme blitzen auf den schwarzen Helmen der Soldaten. Menschen in dichten Gruppen blockieren die Gehwege und schauen in die Chausseestraße hinein, in Richtung Osten. Osten und Westen das sind längst keine geographischen Begriffe mehr.
Die Liesenstraße führt am Friedhof der Französischen Domgemeinde entlang. Die breite brusthohe Friedhofsmauer ist aufgestockt. Sie ist jetzt fünf bis sechs Meter hoch. Höher noch als die alte Mauer, die den Stettiner (Nord-) Bahnhof von der Gartenstraße trennt.
Die Gartenstraße stößt im rechten Winkel auf die Bernauer. Hier ist die rechte Häuserflucht Staatsgrenze, wie sie es nennen. Bis zum ersten Stock ist jedes Loch zugemauert. Und in den Wohnungen darüber blinken da und dort schon schwarze Fensterscheiben, die Bewohner wurden umgesiedelt, sie waren nicht zuverlässig im Sinne derer, die die Mauer erdachten.
Auch der Friedhof der Sophienkirche ist zugemauert, auch hier dürfte die Mauer fünf bis sechs Meter hoch sein. Die Versöhnungskirche ist zugemauert. Über den Mauerfirst sieht noch das Kruzifix. Rot springen einige Kirchenpfeiler durch die Betonmauer, daran hängen in Anschlagkästen noch die Mitteilungen der Kirchgemeinde, FROHE BOTSCHAFT FÜR ALLE. Die kleinen und großen Querstraßen der Bernauer in Richtung Osten sind zugemauert. Vor der Mauer stehen Einwohner der linken Straßenseite, sie winken hinüber. Von weither, aus Fenstern und unten von der Straße, winken die Menschen zurück, eine Ansammlung, es werden mehr und mehr, hier, in der Bernauer und drüben, am Ende der Seitenstraße. Nach einer Weile geht die Volkspolizei vor. Mit Wasser gegen die Westberliner, mit Tränengas gegen die Ostberliner. Der Wind steht schlecht, die Gasschwaden treiben über die Mauer, die Polizisten husten.
An eine Hauswand gepreßt steht eine Frau und schaut nach oben. Aus dem zweiten Stock beugt sich ein Ehepaar. So dicht an die Hauswand gepreßt, kann die Vopo nicht sehen, daß man miteinander spricht. Und wenn doch, so kann sie's wenigstens nicht verstehen, die Frau und das Ehepaar, sie flüstern nur miteinander. Das Haus Nummer 48 ist ein häßlicher grauer Ziegelbau ohne Verputz, fünfstöckig. Im zweiten Stock hat sich einer den Eisenbalkon zur bunten Gartenlaube ausgebaut. Schräg darüber das Fenster, aus dem vor drei Wochen die ältere Frau gesprungen ist. Unten, auf dem Gehsteig liegen Kränze und frische Blumen. Menschen mit Tränen auf ihren Gesichtern, Einwohner dieser Straße.
Vom Ende der Bernauer an läuft die Grenze am
S-Bahnkörper entlang. Wo eine Straße durch die Hochbahn führt, ist sie zugemauert, mannshoch, aber da und dort ist ein Stein ausgelassen, in dem Loch siehst du die Gläser eines Feldstechers. Auf dem Bahnkörper patrouillieren Trapos, Karabiner, aufgepflanztes Bajonett. Jetzt verläuft die Grenze nicht mehr in Winkeln und Kurven.
Zwischen Wilhelmsruh und Wittenau biegt sie um hundert Grad nach Norden ab, nach Nordosten, sie folgt jetzt der Bahnstrecke nach Blankenfelde und Basdorf. In Blankenfelde ist das Aufnahmelager für «Wesfflüchtlinge» ...
Bald geht die Mauer wieder in schlichten Stacheldraht über, Doppelreihen von Betonpfeilern. Die Gegend wird ländlicher, Kleingärten, die ersten Felder. Hinter dem Dorf Lübars stoßen Stadt- und Sektorengrenze zusammen. Das ist ein hügeliges Gelände, Felder, nach Norden zu senkt sich das Tegeler Fließ, ein Landschaftsschutzgebiet, sumpflg, verschilft, öde. Auf einem Hügel der erste Wachturm. Ein Feldweg schlängelt sich darauf zu. Hinter dem Stacheldraht patrouillierende Doppelposten. Zwanzig Meter vor dem Turm. Ein Feldstecher ist auf mich gerichtet von da oben. Und eine Kamera. Und ein Gewehrlauf. Ich gehe in zwanzig Meter Entfernung am Verhau entlang. Der Gewehrlauf folgt meiner Bewegung. Der Gewehrlauf folgt jedem Schritt, den ich gehe.